Maiwelt
1. Mai
Maia lief den Hügel hinauf. Sie hatte frei, denn aufgrund des Frühlingsfests fand heute keine Arbeit in der Fabrik statt. Fetzen von Musik, Gesprächen und Gelächter vom Fest drifteten zu ihr herüber, deutlicher werdend je näher sie dem Park kam.
Es war ein schöner Frühlingstag, die Sonne beschien die ergrünenden Wiesen, ein sanfter Wind wehte. Insekten flogen, Vögel zwitscherten, die ganze Natur platzte geradezu vor neugefundenem Lebenswillen.
Maia erreichte den höchsten Punkt und konnte nun auf das Treiben im Park hinabblicken. Schausteller und Gaukler unterhielten das Publikum, welches aus Adligen, Fabrikbesitzern und reichen Großbauern sowie deren Familien bestand. Als einfache Fabrikarbeiterin hatte Maia keinen Zutritt zu diesem Fest. Für die einfachen Leute wie sie war das Fest auf dem Markt in der Stadt da.
Maia verharrte einen Moment auf den Park hinabblickend. Irgendwo dort war Martin. Sie würde wohl heute keine Gelegenheit haben ihn zu treffen.
Maia fiel auf, dass eine Person die anderen deutlich überragte. Die würdevolle und gutaussehende Frau war etwa doppelt so groß wie die größten der anderen Besucher und wanderte mit selbstbewusstem Stolz durch den Park. Maia hatte davon gehört, dass die Fee manchmal ihre Bergquelle verließ, um den Festen der Menschen beizuwohnen, aber sie selbst war ihr noch nie begegnet. Das letzte Mal als sie hier gewesen war musste Maia zu klein gewesen sein. Die Fee sollte schon sehr alt sein - manche sagten Jahrhunderte - jedenfalls war sie auch in der Erinnerung der Ältesten schon immer hier gewesen.
Maia sah jetzt auch bei genauerem Hinsehen, wieso die Festbesucher respektvollen Abstand zur Fee einhielten: Liandra wurde von zwei Einhörnern begleitet, die sie beschützten. Maia erschauerte. Einem Einhorn war sie schon begegnet, eine Erinnerung die sie immer noch Angst verspüren ließ. Vor Jahren hatte sich Maia zu weit in den Bergwald getraut und plötzlich stand diese furchteinflössende Kreatur vor ihr. Das Einhorn hatte nichts gesagt, aber der starre Blick und das schreckliche Horn, mit dem diese Wesen angeblich in Augenblicken einem Menschen das Leben rauben konnten, hatten dazu geführt dass Maia auf der Stelle umdrehte und fortrannte.
Maia wandte sich ab und wählte die Abzweigung, die zum Birkenwäldchen am See führte. Langsam verstummten die Geräusche des Festes hinter ihr, je mehr sie sich entfernte.
Im Wäldchen wich sie vom Weg ab, ging tiefer in den Wald. Maia orientierte sich an einigen kaum sichtbaren Landmarken. Nach einer Weile trat Karl hinter einem Baum hervor und nickte ihr kurz zu, bevor er sich wieder seiner Aufgabe widmete. Maia würde nichts verraten, kein Grund wegen ihr Alarm zu schlagen. Aber er hielt weiter Ausschau, ob sich noch jemand anderes hierher verirrte.
Maia stieg in die Senke hinab und vernahm die Stimme eines Redners als sie sich der Lichtung näherte. Auf der Lichtung waren einige Männer und Frauen versammelt, größtenteils Fabrikarbeiter, aber auch einige Pachtbauern und saisonale Hilfskräfte waren hier. Die Anwesenden nickten zu dem was der Redner sagte, manchmal mit leisen Kommentaren zu ihren Nachbarn.
Deniz hatte das Wort ergriffen, wieder einmal. Er hatte für einige Jahre in Königswald gearbeitet, und war dort mit den unzufriedenen Arbeitern zusammengekommen. Nun verbreitete er die Ideen hier. Arbeiter sollten die Führung über die Fabriken übernehmen. Sie sollten gemeinsam abstimmen welche Entscheidungen die Fabrik treffen sollten. Maia wusste nichts über Entscheidungen, sie trug einfach nur die Werkstücke zum Band und legte sie für die Maschine bereit, richtig ausgerichtet damit die Maschine den Rohling nicht zerstörte. Wie sollte sie die richtigen Entscheidungen für die gesamte Fabrik fällen?
Maia machte ihren Vater ausfindig. Er sah sie geichzeitig und kam ihr ein paar Schritte entgegen. Sie umarmten sich. Maia hatte ihn seit vorgestern nicht gesehen. Sie hatten unterschiedliche Schichten und Vater war noch in der Nacht bis zum Betriebsschluss vor dem Fest arbeiten gewesen. Entsprechend müde sah er aus. Maia reichte ihm das Essen, das Mutter für ihn zubereitet hatte und er bedankte sich mit einem Lächeln.
Deniz hatte sie auch bemerkt. »Aber nicht alle Arbeiter halten zu ihrer Klasse«, bemerkte er, sie anblickend. »Manche treffen sich mit höherer Gesellschaft, in der Hoffnung aufzusteigen. Aber anstatt allen zu helfen versuchen sie damit nur zu den Unterdrückern zu gehören.« Es gab einige zustimmende Rufe von Leuten die sie nicht kannten oder nicht wussten, dass es sich auf sie bezog.
Ihr Vater sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Maia wurde rot. Er wusste nichts von Martin. Trotzig dachte sie, dass es ihn auch nichts anginge, immerhin war sie nun erwachsen. Aber Vater drehte sich zu der Menge um und rief: »Wir sollten uns nicht in kleinen Streitereien verlieren, sondern stattdessen für eine Welt kämpfen, in der alle gemeinsam fair leben können, Fabrikarbeiter und ehemalige Herren gemeinschaftlich!« Zustimmende Rufe wurden laut. Deniz erkannte dass ein gespaltenes und diskutierendes Publikum schlecht mitzureißen war und wechselte das Thema.
Vater sah wieder zu ihr und sagte lächelnd: »Du solltest jetzt gehen. Danke für das Essen. Wir sehen uns später.« Dankbar und verwirrt winkte Maia ihm zu und zog sich aus dem Publikum zurück. Vielleicht wusste Vater mehr über Martin als sie dachte?
5. Mai
Der Horizont färbte sich langsam farbig, während Maia den Weg zur Fabrik entlangschritt. Bald würde die Sonne scheinen, wenn sie zu ihrer Schicht ging.
Während sie weiterging hörte sie voraus Geräusche von vielen Menschen. Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. Sie beschleunigte ihre Schritte.
Die Geräusche verdichteten sich zu Lärm. Als sie um die Ecke bog sah Maia Qualm aus der Fabrik aufsteigen. Die Feuerkampfbrigade war da, Wasserzauberer erzeugten Fontänen, die auf die Fabrik gerichtet wurden. Maia sah Verletzte die aus der Fabrik getragen wurden. Ein Feuerdämon kletterte über das Dach und entzündete dort Flammen.
Ein Feuerdämon? Diese sollten eigentlich sicher in den Dampfkesseln eingesperrt sein und diese betreiben. Wenn sich welche davon aus den Kesseln befreien konnten erklärte dies das Chaos.
Maias Herz krampfte schmerzhaft. Mutter hatte Nachtschicht in dieser Abteilung. Maia sah sich um unter den Arbeitern die hustend aus der Fabrik kamen oder herausgetragen wurden. Schließlich fand sie ihre Mutter. Sie war bewusstlos und hatte Verbrennungen. Maia suchte bis sie eine Heilerin fand die bereit war sich ihre Mutter anzuschauen. Sie wirkte ihre Magie und erklärte dann die Wunde wäre sicher vor Infektionen, aber die Heilung würde einige Monate dauern. Sie gab Maia eine Salbe und eilte weiter zum nächsten Opfer.
Immer mehr Arbeiter aus ihrer Schicht sammelten sich an, schauten verwirrt oder suchten ihre Angehörigen. Der Schichtleiter erschien und verkündete, dass die Bestückungsabteilung vorläufig geschlossen sei, die anderen Abteilungen aber weiterarbeiteten. Die Arbeiter der Bestückungsabteilung sollten dagegen nach Hause gehen. Jemand hatte den Mut zu fragen, ob für die Arbeiter die nun zu Hause bleiben mussten eine Entschädigung für den Arbeitslohn gezahlt würde. Der Schichtleiter lachte.
Maia seufzte. Sie und ihre Mutter hatten in der Bestückungsabteilung gearbeitet. Nur Vater war in der Rohlingsverarbeitung. Wie sollten sie genug Geld haben, zumal Mutter verletzt war und die weitere Behandlung sicher Geld kosten würde. Maia verbannte die Gedanken und kümmerte sich erst einmal um ihre Mutter.
9. Mai
Maia ging durch den Wald. Der Anstieg zum Berg hin war inzwischen spürbar. Die Bäume verdeckten jeden Blick auf ihr Ziel, aber es war hell da die Sonne durch das Blätterdach drang.
Maias Gedanken waren in Aufruhr. Sie war sich nicht sicher was sie erreichen wollte oder konnte, was sie hoffte und was realistisch war. Sie wusste nur, sie musste es probieren.
Als sie über eine Wurzel stieg die in den Weg hineinwuchs stand plötzlich ein Einhorn vor ihr. Es hatte eben noch nicht da gestanden, bevor sie zu Boden geblickt hatte um über das Hindernis zu steigen. Sie hatte auch nichts gehört und keine Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück und stolperte fast über die Wurzel. Das Herz schlug ihr bis in den Hals. Natürlich, sie hatte das erwartet. Aber dennoch konnte sie vor Angst keinen klaren Gedanken fassen.
»Bist Du auf dem Weg als Bittsteller zur Fee?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Maia drehte entsetzt den Kopf und erblickte einige Schritte hinter ihr ein weiteres Einhorn. Das hatte sie ebenfalls nicht gehört. Sie spürte wie ihre Beine wabbelig wurden und hatte einen Kloß im Hals. Sie schaffte nur zu nicken.
»Bedenke nur wenn Du vor hast der Fee zu schaden, dann wird Dir das nicht gelingen«, sagte das Einhorn hinter ihr. »Und es wird sehr schlecht für Dich ausgehen wenn Du es versuchst. Solltest Du also so etwas vorhaben, solltest Du jetzt umdrehen. Aber das hast Du nicht vor, oder?« Maia schüttelte entsetzt den Kopf.
»Gut, dann gehe den Weg weiter.«
Maia nickte zaghaft und blickte wieder nach vorn. Das Einhorn vor ihr war zur Seite gewichen und gab den Weg frei. Ohne ein Geräusch. Maia atmete tief durch und versuchte Kontrolle über ihre Beine zurückzuerlangen. Der nächste Schritt war sehr unsicher, aber sie kam voran. Sie spürte mehr als dass sie es sah, dass das Einhorn hinter ihr zu ihr aufgeschlossen hatte und neben ihr lief. Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen, ihre Umgebung kaum wahrnehmend und sah aus den Augenwinkeln das neben ihr bleibende Einhorn an.
»Du bist nervös, nicht wahr? Keine Angst, Liandra freut sich über menschliche Besucher.« Redete die Kreatur mit ihr? Maia schluckte.
»Obwohl, es kommen nicht mehr so viele Besucher wie früher. Seit die Menschen immer besser mit Magie und mit Maschinen werden, wenden sich weniger an die Feen.« Maia hatte gehört, die Feen würden manchmal Menschen helfen, deshalb war sie hier. Sie kannte niemanden der das gemacht hätte, aber sie hatte das so gehört. Sie war sich nicht bewusst, dass das früher eher gemacht wurde. Es machte Sinn irgendwie, weshalb mit einfachen Problemen zur Fee kommen, wenn man einen menschlichen Magier in der Stadt hatte.
»Es hat vor etwa 150 Jahren angefangen, seitdem kommen immer weniger Besucher. Ich habe gehört ihr Menschen nennt das den Beginn des techno-thaumaturgischen Zeitalters.« 150 Jahre? Wie alt war die Fee? Und das Einhorn war da auch schon da?
»Ich habe gehört, in einigen Regionen wurden die Feen sogar angegriffen.« Was? Wer war verrückt genug so etwas zu tun?
»Ich schätze mächtige Menschen betrachten sich mit den Fortschritten in Maschinen und Magie als den Feen ebenbürtig und sogar überlegen. Und da Feen sich grundsätzlich nicht den Mächtigen der Menschen unterordnen - seien es Kirchen, Könige oder Generäle - so werden sie wohl als eine Einschränkung dieser Macht betrachtet.« In Maias Kopf wirbelten die Gedanken. War das so?
»Und irgendwie ist es schon wahr«, fuhr das Einhorn fort. »Liandra hat Menschen bereits Schutz vor den Mächtigen gewährt. Zuletzt vor der Blutkönigin.« Die Fee beschützte Menschen? Und vor der Blutkönigin? Das war mehr als 12 Jahrhunderte her? Damals waren es noch sehr dunkle Zeiten, und sowohl Magie als auch Technologie steckten in den Kinderschuhen.
»Einige der Feen haben sich aufgrund der jüngeren Entwicklungen zurückgezogen. Sie vermeiden Kontakt mit Menschen. Aber Liandra liebt die Menschen. Sie würde das nie tun.« Maia hatte ihre Angst inzwischen komplett vergessen und blickte das Einhorn direkt an.
»Übrigens, ich bin Noctifer, wie heißt Du?«, fragte das Einhorn.
»Maia«, brachte sie hervor.
»Freut mich Dich kennenzulernen, Maia«, sagte Noctifer. »Ich hoffe wir sehen uns irgendwann einmal wieder. Oder vielleicht Deine Kinder.«
Maia realisierte wie wenig sie eigentlich über die Feen wusste. Die Plauderei des Einhorns hatte ihr Wissen zu dem Thema bestimmt verdoppelt. Überhaupt, sie hatte auch nicht gewusst, dass Einhörner plauderten. Taten das alle, oder nur dieses?
»Wir sind da.« Noctifer zeigte mit seinem Horn nach vorne, wo der Weg nicht mehr anstieg sondern auf eine kleine Ebene unter dem Berggipfel führte. Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung. Die Quelle entsprang etwas höher am Berg und speiste einen kleinen Teich, der zu Maias Linken in einen kleinen Bach entwässerte.
Liandra saß auf einem großen Stein. Sie winkte Maia zu sich heran: »Komm näher, Kind.« Sie lächelte freundlich. Maia dachte, dass für die Fee wohl alle Menschen wie Kinder wirken mussten.
Während Maia näher kam, betrachtete Liandra sie aufmerksam.
»Du bist sicher wegen Deinem Baby hier?«, fragte sie.
Maia stockte. Baby?
Ihre Verwirrung musste auf ihrem Gesicht sichtbar sein.
»Oh, Du weißt es noch gar nicht«, sagte Liandra lächelnd. »Es ist noch sehr früh, aber die Anzeichen sind da.«
Maia war schockiert. Wie sollte sie bei allem was passierte auch noch ein Kind großziehen.
»Weswegen bist Du denn dann hier, wenn nicht wegen der Schwangerschaft?«, fragte Liandra.
Maia schüttelte ihren Kopf. Sie konnte später über das Kind nachdenken. Jetzt war sie wegen etwas anderem hier.
Sie erzählte der Fee von dem Unfall in der Fabrik. Von den Verletzungen ihrer Mutter und dass sie noch so lange brauchen würde, bis die Wunden verheilen würden. Und sie wahrscheinlich immer davon eingeschränkt sein würde.
Liandra seufzte. »Es ist wahr, dass wir Feen Heilkräfte besitzen. Aber nur für Wesen der Natur. Ich kann den Wald heilen wenn es einen Brand gab. Ich kann wilde Tiere heilen. Aber Menschen haben sich der Natur entzogen. Sie leben in Städten. Meine Heilkraft ist bei ihnen wirkungslos. Es tut mir so leid, Kind.«
19. Mai
Maia stand mit anderen in einem Gürtel um den Eingang der Fabrik. Einige verteilten Flugblätter, andere Wasser und Nahrung. Seit mehreren Stunden nun wurde die Arbeit in der Fabrik blockiert. Anfangs hatte einige ihre Forderungen skandiert, aber die Kehlen waren nun trocken und die Standpunkte waren klar. Die Arbeiter wollten bessere Schutzmassnahmen, medizinische Unterstützung im Falle von Unfällen und kürzere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn.
Die Fabrikleitung und die Polizei hatten versucht die Versammlung aufzulösen, aber es gab einfach zu viele Arbeiter. Und so lange sie zusammen standen konnte da nicht viel erreicht werden.
Maia fühlte sich leicht berauscht von dieser Macht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten ihre Handlungen größere Auswirkungen. Und wenn es momentan nur war, dass die Arbeit in der Fabrik stillstand. Aber der Besitzer würde schon nachgeben. Eine stillstehende Fabrik brachte ihm ja auch nichts, also würde er schon verhandeln.
Deniz nannte das einen Streik. Das hatte er in Königswald gelernt. Sie hatten das jetzt seit einigen Tagen geplant. Pünktlich mit dem morgendlichen Schichtwechsel hatten sie die Blockade erstellt. Mit den Arbeitern deren Schicht endete, denen deren Schicht begann und denen, die seit dem Unfall ohne Arbeit waren. Weitere waren bald hinzugestoßen. Deniz organisierte und beriet sich mit einigen der einflussreicheren Arbeiter, darunter ihrem Vater.
Aber Maia war zuversichtlich. Es war ein gutes Gefühl sich mit anderen gemeinsam für die Verbesserung der Lage einzusetzen. Es war unglaublich, wie sehr die Leute zur Zusammenarbeit bereit waren. Alles was nötig war, war ein gemeinsames Ziel und ein Plan wie man das Ziel erreichen konnte.
Außerdem ging es Mutter besser. Sie konnte noch nicht arbeiten, aber sie konnte wieder aus dem Bett aufstehen und einfachen Tätigkeiten nachgehen. Die Heilerin hatte versprochen dass es sich noch weiter bessern würde, wenn die Haut verheilte die Schmerzen nachlassen würden.
21. Mai
Maia schreckte aus dem Schlaf auf. Sie war für einige Momente ein wenig desorientiert. Es war noch dunkel, definitiv zu früh um ihren Posten in der Fabrikblockade einzunehmen. Dann registrierte sie die Geräusche. Es gab Aufruhr, Bewegung, Aktion in den Straßen. Was war los? Dann hörte sie Schüsse.
Sie sprang aus dem Bett, zog sich an und rannte in die Stadt, in Richtung Fabrik. Ab und zu begegneten ihr Leute, die in verschiedene Richtungen rannten. Geräusche, Rufe, Pferde, Bewegung und vereinzelte Schüsse in anderen Straßen. Als sie um eine Ecke bog, sah sie eine Gestalt auf dem Boden liegen. Sie näherte sich und schaute genauer. Es war die Leiche eines Fabrikarbeiters. Er hatte gebluetet, anscheinend eine Schusswunde.
Maia lief nun vorsichtiger. Als sie um die Ecke spähte sah sie eine pferdelose Kutsche der Polizei. Mehrere Arbeiter standen still und wurden von den Polizisten mit Handschellen versehen. Zwei regungslose Körper lagen am Boden.
Maia lief einen anderen Weg. Sie wusste nicht mehr genau wohin. Ihre Gedanken rasten.
Eine Hand packte sie, verschloß ihren Mund bevor sie schreien konnte und zog sie in die Seitengasse. »Leise, sonst bemerkt uns die Polizei«, raunte ihr eine Stimme ins Ohr.
Maia nickte und die Hand gab sie frei. Sie drehte sich um und sah Karl.
»Tut mir leid, dass ich Dich so überfallen habe«, flüsterte er. »Aber ich wusste nicht wie ich Deine Aufmerksamkeit erhalte ohne die der Polizei zu erregen."
Maia umarmte ihn. »Mein Vater?«, fragte sie.
Karl zeigte die Gasse hinunter: »Da ist eine Treppe nach unten, die zu einer Kellertür führt.«
Maia nickte und ging den beschriebenen Weg.
In dem Keller war es dunkel, es wurde wohl kein Licht angemacht um die Polizei nicht aufmerksam zu machen. Maia machte mühsam mehrere Gestalten aus. Es gab eine gemurmelte Diskussion von der sie nur Fetzen vernahm.
»Wir müssen zurückschlagen... Das ist Wahnsinn... müssen fliehen ...«
Maia machte ihren Vater aus. Er sah erleichtert aus, als er sie bemerkte. Sie umarmten sich.
»Wir können nicht kämpfen«, sagte der Mann neben ihrem Vater. »Wie und womit? Wir müssen uns verstecken.«
»Aber das ist aussichtslos«, kam eine Antwort aus dem Dunkel. »Über kurz oder lang werden sie uns finden.«
»Wir können nirgendwo hin«, sagte ein Dritter. »Unsere einzige Chance ist zu kämpfen!«
Maia erinnerte sich an etwas. »Wir könnten uns bei der Fee verstecken«, sagte sie.
Mehrere kaum erkennbare Silhouetten schauten sie an. »Warum sollte die Fee uns helfen?«, fragte eine der Gestalten.
»Es ist eine Chance«, argumentierte eine Frauenstimme. »Selbst wenn die Fee uns nicht hilft, könnten wir uns im Wald abseits der Quelle verstecken.«
Maias Vater räusperte sich. »Es erscheint mir wie die beste Möglichkeit. Es ist ja nicht so, als hätten wir eine Menge anderer Optionen. Und wir sollten uns bewegen bevor es hell wird.«
Die Diskussion war praktisch am Ende, die letzten Zweifler waren durch die Aussichtslosigkeit der Alternativen schnell überstimmt. Die Arbeiter packten einige Sachen und machten sich auf den Weg. Sie hielten sich an Gassen und Nebenwege. Einige gingen zu anderen Verstecken, um von dem Plan zu berichten.
Maia fragte sich ob die Fee erneut den Menschen Schutz gewähren würde, wie sie es laut dem Einhorn in der Vergangenheit getan hatte.
Als sie den Waldrand erreichten dämmerte es. Fünf Einhörner standen dort, trotz des schlechten Lichts aufgrund ihrer weißen Farbe gut erkennbar. Verschüchtert stoppte die Gruppe der Flüchtlinge.
»Liandra bietet Euch Schutz, so lange es notwendig ist«, sagte das größte der Einhörner. »An der Quelle ist nicht genug Platz für viele, aber es gibt einige Lichtungen in der Nähe, und eine Höhle. Ihr habt als Gäste der Fee die Natur zu respektieren, tötet keine Tiere, fällt keine Bäume.«
Es gab Gemurmel unter den Arbeitern. »Wir werden uns an die Bedingungen halten und danken der Fee«, sagte Maias Vater.
»Folgt meinen Kameraden«, sagte das große Einhorn und wies mit dem Horn auf zwei der Einhörner.
Diese führten sie in den Wald und die Arbeiter folgten. Eines der beiden Einhörner fiel etwas zurück und lief neben Maia.
»Vielen Dank, Noctifer«, sagte Maia. Der Ausdruck des Einhorns war undeutbar, aber Maia stellte sich vor, dass es lächelte.
25. Mai
Maia lief durch den Wald. Das Leben der geflüchteten Streikenden hatte sich in den letzten Tagen organisiert. Maia war dabei die Aufgabe zugefallen zwischen den Menschen und den Einhörnern zu vermitteln. So überbrachte sie die Wünsche und Botschaften zur jeweils anderen Seite und vermittelte bei Konflikten.
Einige Persönlichkeiten der Streikenden - darunter auch Maias Vater - und Vertreter der Polizei, der Fabrik und der Stadt standen in Verhandlungen zur Lösung des eskalierten Konflikts. Liandra hatte die Rolle als Vermittlerin in diesen Verhandlungen eingenommen.
Die Verhandlungen waren schwierig. Es ging um viele Probleme, auch um die verhafteten Streikenden. Aber Maia war zuversichtlich, dass sich eine Lösung finden würde.
Ein Einhorn trat aus dem Wald. Maia lernte langsam die verschiedenen Einhörner zu unterscheiden, aber Noctifer erkannte sie immer auf der Stelle.
»Was ist«, fragte sie.
»Du hast einen Besucher, Maia«, sagte das Einhorn und wies den Berghang hinunter.
Maia folgte Noctifer in die angegebene Richtung. Nach einer Weile erreichten sie eine Gestalt, die auf einem umgestürzten Baumstamm saß und wartete. Als Maia kam sprang die Gestalt auf, rannte auf sie zu und umarmte sie.
»Martin!«, sagte sie freudig. Sie küssten sich.
Aber Martins Gesicht wurde schnell ernst. »Ich bin hier um euch zu warnen. Nicht alle stehen hinter den Verhandlungen. Es gibt einige - darunter mein Vater - die ein Exempel statuieren wollen. Es könnte einen Angriff geben.«
»Aber die Fee und die Einhörner beschützen uns«, sagte Maia.
»Ja, aber das wissen sie auch«, sagte er. »Ich denke sie planen das ein.«
Maia nickte. »Ich werde die Warnung an meinen Vater und Liandra weitergeben. Danke.«
Sie umarmte ihn erneut. »Wie lange kannst Du eigentlich bleiben?« Martin lächelte.
30. Mai
Überall um sie herum war der Tod. Maia stolperte durch den Wald, nicht wissend wohin. Um sie herum ertönten Schüsse, Schreie, magische Explosionen.
Sie hatten spät angegriffen, als die Sonne untergegangen war. Der Berg war zuvor eingekreist worden, dann rückten Soldaten vor. Gepanzerte Dampfkutschen begleiteten sie. Liandra hatte verlangt, dass sie stoppen. Stattdessen begannen sie auf die Fee zu schießen. Anfangs erschien das aussichtslos, die Wunden der Fee heilten in beachtlichem Tempo und die Einhörner griffen die Soldaten an. Aber die Angreifer waren vorbereitet. Die dampfbetriebenen Schnellgewehre verursachten mehr Schaden und waren schneller als die Musketen der Polizei. Die Tödlichkeit der Einhörner nützte wenig gegen die gepanzerten Wagen und die Kampfmagier in den Reihen der Angreifer begannen die Einhörner zu attackieren.
Die Ereignisse gerieten außer Kontrolle und die Soldaten rückten langsam immer weiter auf den Berg vor. Zwar waren die Einhörner furchterregende Gegner und die Angreifer hatten immense Verluste, aber langsam zog sich der Kreis immer weiter zu. Einige der Fabrikarbeiter versuchten ebenfalls die Angreifer abzuwehren, aber sie waren noch ineffektiver.
In all dem Chaos versuchte Maia einen Weg zu finden, zu fliehen. Vor ihr bewegten sich die Sträucher und ein Soldat trat hervor. Er erhob sein Gewehr in ihre Richtung. Doch plötzlich verfärbte sich seine Uniform rot, als ein Horn aus seiner Brust ragte. Noctifer zog sein Horn zurück und der Soldat sank leblos zu Boden.
»Liandra hat uns angewiesen so viele wie möglich zu retten«, sagte das Einhorn. »Sie kann hier keinen Schutz mehr garantieren. Steig auf, ich bringe Dich hier heraus.«
Maia nickte und kletterte auf den Rücken des Einhorn. Es bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit durch den Wald und hielt nur, um weitere Flüchtlinge einzusammeln. Maia sah, dass andere Einhörner ebenfalls flüchtende Arbeiter einsammelten. Sie sammelten sich alle und auf ein unausgesprochenes Signal hin bewegten sich alle in eine Richtung. Mehre Soldaten hielten dort die Einkreisung aufrecht, aber die Einhörner brachen zu schnell durch, als dass diese reagieren konnten. Anscheindend waren hier keine Magier postiert.
Am Fuße des Berges luden die Einhörner die Arbeiter ab. Viele Einhörner kehrten zurück in den Kampf um mehr Menschen zu retten, aber Noctifer und ein anderes Einhorn blieben.
Die verbliebenen Arbeiter sahen sich an. Alle ihre Hoffnungen waren zerschlagen, ihr Leben zerstört.
Maia kletterte auf eine kleine Anhöhe und sah sich in der Umgebung um. Es musste nun nahe Mitternacht sein, aber der Mond erhellte die Ebene vor ihr und sie sah ein Lager. Dort mussten sich die Soldaten gesammelt haben und ihren Angriff gestartet haben.
Die beiden Einhörner versteiften sich plötzlich. »Liandra ist tot«, sagte Noctifer.
»Was sollen wir nur tun?«, fragte ein Mann verzweifelt? Die Mehrheit der Blicke ruhten auf Maia. Sie war diejenige, die mit den Einhörnern redete und damit unter den Verbliebenen die Person mit der meisten Autorität.
31. Mai
»Wir befreien die restlichen Überlebenden«, sagte sie. Sie wandte sich an Noctifer: »Wenn noch jemand lebt?«
»Ein Großteil der Überlebenden hat sich in die Höhle zurückgezogen«, sagte Noctifer. »Mehre Einhörner und einige Arbeiter mit erbeuteten Waffen versuchen die Soldaten abzuhalten. Aber das werden sie nur für wenige Stunden schaffen.«
»Also sollten wir vorher handeln«, sagte Maia.
»Aber wie?«, fragte eine Frau. »Wir sind harmlose Arbeiter und haben noch nicht einmal Waffen.«
Maia wies auf das Lager, welches sie erspäht hatte. »Dort sind bestimmt Waffen. Und wenn wir bewaffnet den Soldaten vor der Höhle in den Rücken fallen, sollte die Befreiung möglich sein.«
Einer der Männer trat vor und blickte auf das Lager. »Das ist ein typisches Nachschublager. Ich kenne das, ich war früher bei der Armee. Wenn sie keinen Angriff erwarten sollte es nicht schwer bewacht sein.«
Maia blickte zu Noctifer. Das Einhorn nickte. »Wer kann mit Waffen umgehen?«, fragte sie.
Neben dem früheren Soldaten traten einige andere vor.
»Kommt mit«, sagte Maia und brach mit den Einhörnern auf.